Wie Bernd Gaiser 1979 den ersten Berliner CSD gründete

Schwules Selbstbewusstsein statt Scham

Als Bernd Gaiser 1967 verliebt in einen Mann mit Anfang 20 nach West-Berlin zog, gab es weder das SchwuZ noch den CSD. Die Orte, an denen Schwule verkehrten, hatten dicke Türen, wo durch kleine Sichtschlitze kritisch die gemustert wurden, die reinkommen wollten. Der Paragraph 175, der einvernehmlichen Sex zwischen Männern unter Strafe stellte, war noch in seiner unter den Nazis verschärften Version aktuell. Das Bundesverfassungsgericht hatte ihn 1957 sogar in seiner Rechtmäßigkeit bestätigt.

Doch all das sollte sich bald ändern und Bernd Gaiser ist einer der Protagonist:innen dieser Veränderung. Er wurde 1945 als smalltown boy in Nussloch in Baden-Württemberg geboren, wuchs in Edingen-Neckarhausen auf, machte eine Ausbildung zum Verlagskaufmann und absolvierte seinen Grundwehrdienst. Bei der Marine wurde er auf brutale Weise mit der prekären Not konfrontiert, die eine schwule Existenz in der Illegalität bedeutet. Ein Freund nahm sich das Leben, nachdem er aus der Armee entlassen wurde und ihm eine Anklage mit dem §175 drohte.

Bernd Gaiser fasste den Entschluss, der privaten Scham und staatlichen Diskriminierung ein schwules Selbstbewusstsein entgegenzusetzen. Gerade in Berlin angekommen, stürzte er sich mit Begeisterung ins Nachtleben, in die Politzirkel um die Unis herum und in den Aufbau von Strukturen, in denen man jederzeit so schwul sein konnte, wie man wollte. 1969 gründete er mit Ulrich Baer eine WG. Im selben Jahr wurde der Paragraph 175 entschärft und Sex zwischen Männern über 21 legalisiert.

Radikal und revolutionär: Der erste CSD Berlin im Jahr 1979.

Jemand sagte: "Euch hätte man vergasen sollen!"

In den nächsten 10 Jahren war Bernd Gaiser überall da, wo sich schwules Selbstbewusstsein regte und sich organisierte: Er stritt mit und baute mit auf. Aus dem Nichts entstand in dieser Zeit eine Infrastruktur von Orten, Gruppen, Verlagen und Zeitungen. „Wir hatten keine Vorbilder“, sagte Gaiser später in Interviews. 1971 wurde Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“ im Arsenal-Kino in Berlin-Tiergarten aufgeführt und Bernd war dabei. Den Aufruf des Films „Raus aus den Klappen, rein in die Straße“ nahmen die Zuschauer:innen ernst und gaben eine Namens- und Telefonliste zur Gründung der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) rum. Bernd trug sich kurzerhand ein und gestaltete die HAW seit ihrer Gründung mit. (Das Schwule Museum zeigt im Sommer 2023 eine Ausstellung der Fotografen Rüdiger Trautsch dazu.)

Die Schwulen der HAW waren anders als die diskreten Bargänger vom Nollendorfplatz hinter ihren dicken Türen: Sie waren laut, sie trugen lange Haare und Bärte, sie lasen Marx und später Foucault. Vor allem wollten sie sich nicht mehr verstecken. In Sponti-Manier rannten sie in die Bars der Subkultur, setzten sich auf den Boden, riefen „Schwule, raus auf die Straße!“ und trommelten im Rhythmus dazu. Tagsüber arbeitete Gaiser als Buchhändler im arrivierten Kiepert-Buchhandel in West-Berlin, bei dem auch die 68er Studis shoppen gingen. Den Rest der Zeit liebte, vögelte, kämpfte, stritt, schrieb und tanzte er in der Bewegung. Vor allem der Sex war überall in den 70ern. Gierig nach Leben, hungrig nach Liebe und die Revolution im Kopf und im Herzen: Gaiser und seine Zeitgenoss:innen  redeten sich den Mund fusselig auf Plena, knutschten sich die Lippen wund und tanzten sich Blasen an die Füße.

So schnell die Bewegung voranschreitet, so langsam ist die gesellschaftliche Liberalisierung. Bei einer ersten Schwulendemo in Westberlin 1973 zischte jemand Gaiser zu: „Euch hätte man vergasen sollen.“ Mit der zunehmenden Organisierung brachen auch die ersten Konflikte auf: Als französische und italienische Tunten bei einer Demonstration im Nachgang eines europaweiten Schwulen-und-Lesben-Treffens in Fummel auftraten, kam es zum berühmten Tuntenstreit.

Bernd Gaiser als Tunte Daisy (rechts) mit Andreas Pareik, der den CSD 1979 als politische Demonstration angemeldet hat.

1979: Der allererste CSD

Einige Schwule aus der Bewegung kritisierten die Tunten: Dass sie mit ihrem Fummel das scheue Reh des Proletariats verscheuchen und so der Revolution im Wege stehen würden. Für Gaiser und die „Feministen“-Fraktion, der er angehörte, war dagegen klar: das Spiel mit Geschlecht und die Tuntigkeit ist ein unbedingter Teil der queeren Emanzipation – etwas, das Ronald M. Schernikau in seiner Kleinstadtnovelle knapp sieben Jahre nach dem Tuntenstreit mit „bin weiblich. bin männlich. bin doppelt“ beschrieb.

In der Folge spaltete sich die Feministen-Fraktion ab und aus ihr entstand 1977 das Schwule Zentrum, das SchwuZ. Bernd Gaiser war selbstverständlich dabei. Dort trat das erste Tuntenensemble Westberlins Ladies Neid auf: unter anderem Mechthild von Sperrmüll, Pepsi Boston und Melitta Sundström glitzerten und gackerten durch den vierten Stock in der Kulmerstr. 20a. 

Schon seit seiner Jugend der Literatur verpflichtet, brachte Gaiser 1978 schreibende Schwule zu einer dreitägigen Tagung zusammen. In dieser Zeit entstand auch der Verlag Rosa Winkel, den sein Mitbewohner Egmont Fassbinder mitgründete. Dort gab er ein Jahr später gemeinsam mit Anderen „Milchsilber. Wörter und Bilder von Schwulen.“ heraus.

In dieser Zeit kam Gaisers Freund Andreas Pareik von einer Reise in die USA zurück und berichtete beim abendlichen Bier im SchwuZ von den Vorbereitungen auf den dortigen zehnten Jahrestag der Stonewall Riots. Über die Biere des Abends hinweg entwickelte sich der Plan, den Jahrestag auch hier in Deutschland zu begehen und mit einer Demonstration nicht nur der Schwulen, sondern aller aus der Bewegung.

Baldiga (links) und lesbische Aktivistinnen demonstrieren gemeinsam beim ersten CSD Berlins.

"was bleibt, ist der rest vom leben."

Schnell trommelten die Aktivismuserprobten ihre Freund:innen zusammen, druckten Flugblätter und legten sie in Kneipen aus, quatschten noch die letzte Exliebschaft und den letzten einsamen Schwuzbiertrinker an und staunten, als knapp 500 Leute am 30. Juni bereitstanden, um den ersten CSD zu feiern. „Mach dein Schwulsein öffentlich!“ und „Lesben erhebt euch und die Welt erlebt euch!“ waren die Pride-Parolen des Tages. Für Bernd Gaiser zeigte sich an dem Tag besonders das, was woanders schon länger queer hieß: dass es nicht nur um die Schwulen geht.

Die gesellschaftliche Stimmung war diesmal anders als fünf Jahre vorher: Passant*innen entlang des Ku’damms lächelten den Queers auf der Straße zu – Ergebnis der Arbeit der Bewegung. Bernd Gaiser arbeitete als Journalist für verschiedene schwule Zeitungen und gründete noch 1981 die Maldoror Flugschriften.

Ein Jahr später der erste dokumentierte deutsche AIDS-Fall: Um Bernd Gaiser wurden die Freunde und Liebhaber krank, viele starben. Die HIV-positiven Liebsten zu pflegen und Trauerarbeit wurden zum Gebot der Stunde. Hinzu trat die Wut über die gesellschaftliche Ignoranz und die politischen Mitverursacher der Epidemie, die die Kranken und nicht die Krankheit bekämpften. Der von Gaiser interviewte und verlegte Jürgen Baldiga, der selbst 1993 in Folge seiner schweren AIDS-Erkrankung stirbt, schrieb über die Zeit:

"j. ist tot
k. ist tot
r. ist tot
h. ist tot
u.s.w.

was bleibt,
ist der rest vom leben.
schneller leben.
intensiver leben."

Bernd Gaiser: Bloggt, organisiert und berührt die Herzen der Berliner LGBTQIA-Community bis heute

"Schwule erfinden das Glück."

Bernd Gaiser überlebte und schlug ein neues Kapitel auf: das schwule Altern. Er besuchte in den 90ern einsame ältere Mitglieder der Community, baute die Elder-Gruppe auf dem CSD auf. Von 2005 bis 2012 entwickelte er den Lebensort Vielfalt in der Niebuhrstraße mit und schuf das erste queere Mehrgenerationenhaus. Er selbst zog 2012 ein, verabschiedete sich von seiner schwulen WG mit Egmont Fassbinder und Wolfgang Theis, dem Mitgründer des Schwulen Museums, in der er seit 1977 gelebt hatte. 

2016 gab er seine Texte in den Maldoror Flugschriften heraus. 2017 wurde ihm der Soul of Stonewall Award des CSD,  inzwischen zum Massenevent geworden, verliehen. Bis heute schreibt er online über Literatur. Den Titel seines Blogs hat er sein ganzes Leben über bewiesen: Schwule erfinden das Glück.

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Texte: Mowa Techen

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